Interview
In einer lauten Welt auf leisen Füßen – Über Introversion in der Businesswelt mit Silvie Stollreiter
In unserer heutigen Arbeitswelt treffen verschiedene Charaktere aufeinander. Gerade in der Start-Up Szene gehört der Tischkicker und das offene Büro fast schon zum guten Ton. Wenn wir in die sozialen Medien schauen, scheint auch die Diskussion über Remote Work noch kein ersichtliches Ende gefunden zu haben. Wie angenehmes Arbeiten aussehen kann, vor allem für „leise Menschen“, durften wir exklusiv von Silvie Stollreiter erfahren.
Bevor Silvie mit ihrem Karrierecoaching für Introvertierte begann, war sie selbst 10 Jahre im Finanzcontrolling bei General Electric angestellt. Nachdem sich ihre Abteilung umstrukturierte, stellte sie sich die Frage, ob sie nicht ihren Traum zum Beruf machen könnte, um „leisen Menschen“ zu zeigen, wie sie besser Karriere machen können. Dieses Thema ist ihr besonders wichtig, da sie auch selbst lange mit ihrer Introversion am Arbeitsplatz zu kämpfen hatte.
Introvertiert, extravertiert oder doch ambivertiert?
Persönlichkeitstypen finden in der Businesswelt immer mehr Erwähnung und Verwendung. Wir beginnen, Diversität immer mehr zu schätzen und ihren Ursachen auf den Grund zu gehen. Am einfachsten lässt sich das so darstellen: Eine extravertierte Person wacht mit einer „leeren sozialen Batterie“ auf. Mit jeder menschlichen Begegnung und jedem Austausch lädt sich die Batterie auf und erreicht irgendwann ihren Höhepunkt. Für diesen Persönlichkeitstyp sind soziale Veranstaltungen ein Traum. Partys oder Abende mit den Teamkollegen zum entspannten „Get-together“ stehen daher hoch im Kurs. Bei introvertierten Personen verhält es sich genau andersherum: Sie wachen morgens mit einer „vollen sozialen Batterie“ auf, und mit jedem sozialen Kontakt wird diese etwas leerer, bis sie irgendwann aufgebraucht ist. Zu diesem Zeitpunkt schätzt der introvertierte Mensch Rückzugsorte, an denen dieser Zeit allein verbringt und diese Batterien wieder aufladen kann. Wenn also der Kolleg:in von der nächsten Feier früher geht, ist das kein Grund für extravertierte Personen das persönlich zu nehmen, sondern es kann sein, dass die sozialen Batterien leer sind. Die Ambivertierten sind nach aktuellen Forschungsergebnissen die kleinste Gruppe und haben tragen beide Seiten fast gleich stark in sich. Sie können situativ extravertiert oder introvertiert sein. Meistens wird dies dadurch bemerkbar, dass sie kleine Gruppen schätzen oder Beziehungen zu besonderen Menschen ihre Batterien wieder aufladen, jedoch große Gruppen oder Anonymität dazu führen, dass die „sozialen Batterien“ leer werden.
Besondere Merkmale der Introversion
„Leise, introvertierte Angestellte sind sehr fleißig und gewissenhaft“, sagt Silvie. „Werden jedoch im Allgemeinen noch zu wenig gesehen.“ Das kann unter anderem dazu führen, dass sie weniger Gehalt beziehen oder bei Beförderungen nicht berücksichtigt werden. Laut Silvie neigen Introvertierte eher zum Perfektionismus und versuchen, jede Aufgabe zu 120% zu erfüllen. Das klingt grundsätzlich gut, kann jedoch auch Herausforderungen mit sich bringen, da ein hektischer Arbeitsalltag erfordert, sich auf das Wesentliche zu beschränken. „Oft geht es einfach darum, die richtigen Dinge zur richtigen Zeit zu erledigen“, erzählt Silvie in unserem Interview mit Experten Exklusiv. „Daher müssen die meisten leisen Menschen noch lernen, genau zu erkennen, welcher Umfang genau gefordert ist.“ Für sie bedeutet eine erfolgreiche Karriere , die eigenen Fähigkeiten zu kennen und sie in einem geeigneten Umfeld einsetzen zu können.
In ihrem 1-1 Mentoring, schaut Silvie gemeinsam mit ihren Coachees darauf, welche Aufgaben die Teilnehmenden beherrschen und welche zu ihnen passen. „Wichtig sei: dass sie am Arbeitsplatz nicht nur als fleißige Arbeitsbienen betrachtet werden, sondern als Experten auf einem bestimmten Gebiet gesehen werden. Danach finden sie gemeinsam heraus, welches Gehalt angemessen ist.
Introvertierte im Bewerbungsjungle
Ein Teilnehmer ist ihr aus dem Karrierecoaching besonders im Gedächtnis geblieben. Dieser hatte sich ein Jahr lang erfolglos bei Unternehmen beworben und beinahe die Hoffnung aufgegeben. Nachdem er Silvies Online Kurs für den Karrierestart absolvierte, erhielt er bereits nach der Hälfte der Zeit die ersten Rückmeldungen von Unternehmen, sogar von solchen, die ihn zuvor abgelehnt hatten. Am Ende konnte er sich zwischen zwei Jobangeboten entscheiden und ist seitdem in einem Job tätig, in dem er wirklich glücklich ist. Silvie freut sich besonders über die kleinen Erfolge, die während ihrer Zusammenarbeit erzielt werden, zum Beispiel, wenn Teilnehmer:innen berichten, das erste Mal erfolgreich Prioritäten gesetzt zu haben.
Für Introvertierte ist es laut Silvie am wichtigsten, die eigenen Werte und Stärken genau zu kennen. So zum Beispiel, dass sie nur in einem Unternehmen arbeiten wollen, das nachhaltig arbeitet oder Mitarbeitenden Freiheit in ihrer Arbeitsgestaltung bietet. Insbesondere ist für leise Menschen entscheidend, wie sich ihr zukünftiges Arbeitsumfeld gestaltet. Sie stellen sich Fragen wie: Arbeitest du in einem großen oder kleinen Team? Wird es ein Großraumbüro sein? Gibt es ausreichend Rückzugsorte? Bei all diesen Fragen helfen Gespräche mit Freunden oder ein Moment der Selbstreflexion. Ein Workshop über Persönlichkeitsmodelle wie DISC hat ihr den größten Einblick in sich selbst gegeben. „Am wichtigsten ist es, gut und proaktiv kommunizieren zu lernen“, sagt Silvie.
Was Unternehmen tun können
Laut aktuellen Statistiken sind etwa 30% der Menschen weltweit introvertiert1, dennoch orientiert sich ein Großteil der Arbeitswelt immer noch an einem extravertierten Erlebnis. Das beginnt bei der Stellenanzeige, geht über das Großraumbüro (oder auch Open Office Space) bis hin zu Teamevents nach Feierabend. Daher sei es laut Silvie Stollreiter wichtig, Persönlichkeitstypen in die Diversitätsdebatte einzubeziehen. „Ein Großraumbüro ist beispielsweise in einigen Fällen für Teamarbeit oder agile Kommunikation sinnvoll“, teilt sie uns mit, „jedoch scheint es weniger passend zu sein, wenn ein Team viel telefoniert und dadurch andere Kolleg:innen stört, die konzentriert arbeiten müssen. Viel könnte schon getan werden, wenn Führungskräfte lernen, remote zu führen und gute Kommunikatoren sind, sowie vielfältige Bedürfnisse der Mitarbeitenden ernst nehmen. „Allerdings müssen die Mitarbeitenden ebenfalls mitwirken und können nicht erwarten, dass der Arbeitgeber alles alleine macht“, fügt Stollreiter hinzu.
Von den ruhigen Kollegen können wir lernen, dass die Kraft tatsächlich in der Ruhe liegt. Das bedeutet aber nicht, dass wir mehrere Tage auf eine endgültige Entscheidung warten müssen. Oft reicht es schon aus, 10 Minuten über das Thema nachzudenken und dann die besten Ideen zu präsentieren. Oder wie Abraham Lincoln sagte: „Wenn ich zehn Stunden Zeit hätte, um einen Baum zu fällen, würde ich neuneinhalb Stunden damit verbringen, die Axt zu schärfen.“
Silvie hatte während ihrer Zeit bei General Electric die Gelegenheit, in mehreren Ländern und Kontinenten zu arbeiten. Im deutschsprachigen Raum herrscht oft mehr Ordnung in Unternehmen und es gibt eine gewisse Struktur, was besonders für Menschen mit hohem Sicherheitsbedürfnis von Vorteil ist. Eine offene Kommunikation sowie ein Verständnis für die Bedürfnisse könnten sich deutsche Unternehmer:innen beispielsweise von den amerikanischen Kolleg:innen abgucken, die den Schmerzpunkt bereits erkannt haben und Rückzugsmöglichkeiten im Büro schaffen.
Am Ende sehen wir, dass es in der Berufswelt wie im Leben, keine Allwetterlösung gibt. Aktuellen Statistiken zufolge sind etwa 30% der Arbeitnehmer introvertiert, 50% extravertiert und 20% ambivertiert2. Daher lohnt es sich in jedem Fall, die Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern, aktiv Fragen zu stellen und das Erwartete auf den Punkt zu bringen. Weiterhin gilt genau zu prüfen, welche Bedürfnisse die Mitarbeitenden haben und ob sie ihre Arbeit mit höchster Qualität eher in einem vollgepackten Büro, in einem Cafe oder zu Hause erbringen können. Auf diese Weise profitiert auch das Unternehmen am meisten und die Arbeit macht mehr Spaß.
Wir danken Silvie Stollreiter für ihre Zeit und ihre Einblicke in die Welt der „leisen Menschen“ und wünschen ihr und ihren Coachees weiterhin alles Gute.
Wenn du Silvie weiterverfolgen möchtest:
Webseite: https://www.silvie-stollreiter.com/
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/silvie-stollreiter/
Quellen:
2. https://www.businessinsider.de/strategy/daran-erkennt-ihr-ob-ihr-ambivertiert-seid-2017-6/
Dustin weiß immer ganz genau, wie man aus einer Geschichte eine spannende Story macht, die sowohl in der Presse als auch auf Social gut ankommt.
